Frankenberg

Um Sachsens Pioniergeist zu entdecken, startete die Stern-Großfamilie auf eine 170 km-schöne Mercedes-Benz Rundfahrt in Richtung Erzgebirgsvorland mit der Garnisonsstadt Frankenberg als Ziel. Frankenberg ist neben dem Zigarrenmacherhandwerk für seine frühe Automobilindustrie bekannt.

Teilnehmer der Mercedes Benz Ausfahrt

Zu unserem Mercedes-Familientreffen kamen neben den legendären Ahnen der „Super Leichten“ auch diverse andere Angehörige der Daimler Verwandtschaft, nicht zu vergessen die verspoilerten Enfants Terrible von Brabus und Lorinser und die Möchtegerns, welche mit breiten Alufelgen aus dem Zubehörhandel der 80er Jahre wie der „American Gigolo“ einen auf dicke Hose machen. Heimlicher Familienstar war allerdings der Ur-Ur-Enkel vom 107er, welcher als Thronfolger den Namen R232 trägt. Mit seinem AMG-typischen Panamericana-Grill und den schmalen Scheinwerfern sieht der Roadster-Spross zwar seinen Eltern nicht wie aus dem Gesicht geschnitten aus, der große Stern im Spangengrill macht einen Vaterschaftstest aber unnötig. Diese jüngste (wohl nicht letzte) Generation veranstaltet auch bei Mercedes viel Wirbel, was jedoch zum Naturell von Sportwagen gehört, alles andere wäre enttäuschend. 

Eigentlich ist ein 107er mit seinem wertigen Understatement, der teutonischen Schwere und seinem strengen Verzicht auf Spoiler und diverse Anbauteile das Gegenteil vom frivolen AMG: Johann Sebastian Bach trifft auf Rammstein.

Selbst im heraufdämmernden Elektro-Zeitalter bleibt der neue SL der Familientradition (noch) treu und verzichtet auf Hybrid, E-Motor und Ladekabel. Er zieht die Kraft weiterhin aus den Tiefen seines Kurbeltriebs, auch wenn die Brennkammern zwangsbeatmet werden. Ein evolutionäres Gen ist die Abgasanlage, welche je nach Gaspedal- und Klappenstellung ein gehöriges Spektakel veranstaltet. Auf Knopfdruck kann sie zwar auch die Klappen halten, aber wozu? Weil ein SL-Cabrio seine Potenz nicht hemmungslos rausschreit, er brubbelt sein sanftes Stakkato vielmehr gelassen vor sich hin. 

Erst im offenen Roadster kann man mit fulminanter Motorleistung schnelle Kurven genussvoll durchpflügen und den Vorwärtsdrang mit allen Sinnen genießen – die Paradedisziplin eines jeden AMG‘s. Genau davon konnten sich einige Teilnehmer mit ihren eigenen Popometer überzeugen und zwei neue SL‘s während der Ausfahrt einen Streckenabschnitt lang probieren. Im Gegenzug durften die MB-Mitarbeiter den jeweiligen Youngtimer chauffieren, was im 107er nicht weniger schöne Genussmomente erzeugt.

Auf die frische Luft allein komme es beim Cabriofahren aber bekanntlich nicht an, sonst täte es ja auch ein Trabi Kübel. Diese materiellen Besitztümer machen zwar nicht glücklicher, trotzdem ist es angenehmer in der luxuriösen Möblierung aus Leder, Velours oder der karierten Sportmatratze eines SL zu heulen als auf einem Fahrrad. Der offene Himmel ist jedoch nicht umsonst, den AMG 63 gibt es ab 180 TEUR geschmeidig aufwärts, was man aber z.T. auch für die W-Reihe berappen muss. Dafür gäbe es dann ca. 15 Trabi Kübel.

Fürs Erste war Cruisen angesagt und mit dem linken Arm auf der Fahrertür tuckerten wir gelassen wie in ein Fischkutter nach Frankenberg. Die Chinazeichen im Roadbook navigierten uns zum Parkplatz am Erlebnismuseum, wobei die R232er hier nicht parkten, sie lauerten.

In der „ZeitWerkStadt“ stehen sächsische Erfindungen und Errungenschaften, z.B. der Textilindustrie, der Chemie, dem Druckereiwesen und der Automobilindustrie, im Mittelpunkt. Die Automobilbranche hat in Sachsen eine lange Tradition. Bereits 1904 verlagerte der aus Köln zugezogene August Horch seine Autoproduktion in das sächsische Zwickau. Übrigens entstanden 1932 die vier Ringe im Wappen der Familie „Auto Union“ aus dem Zusammenschluss der Zschopauer Motorenwerke (DKW) mit ihrer Zwickauer Tochtergesellschaft Audi, mit der Horchwerke AG (ebenfalls Zwickau) und dem Automobilwerk Siegmar der Wanderer-Werke in Schönau bei Chemnitz.

Die in der „ZeitWerkStadt“ ausgestellten Fahrzeuge zeigen die Historie von Framo und Barkas und machen den Besuch zu einer interaktiven Zeitreise. Für Technikaffine gab es somit Industrie- und Automobilgeschichte zum Anfassen. In den Frankenberger Motorenwerken wurden ab 1927 Kleintransporter und kleine PKW‘s herstellt, ab 1933 verlegte man die Produktion schrittweise in den Nachbarort Hainichen. Hier wurden auch kleine PKW’s produziert. Der „Stromer FP 200” war als Zweisitzer mit einem 6 PS starken Zweitaktmotor ausgerüstet, was immerhin Geschwindigkeiten von bis zu 60 km/h erlaubte. Mit vier Rädern gab es ab 1934 den 8-PS starken „Piccolo”.

Anders als Mercedes stellte Framo preiswerte und einfache Fahrzeuge her, das während der Weltwirtschaftskriese das Überleben sicherte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb von den Sowjets vollständig demontiert und ab dem Neustart 1949 konzentrierte sich Framo in Frankenberg ausschließlich auf Kleintransporter. Im Jahr 1957 erfolgte die Umbenennung der Marke Framo in Barkas und die Umstellung der Fahrzeugkonstruktion von Gemischtbauweise (Holz mit Blechbeplankung) auf selbsttragende Ganzmetall-Karosserie. Der modernere Barkas (übersetzt „Blitz“) war mit seinen 43 PS aus einem 900ccm großen Zweitaktmotor mit Dreizylindertechnik der „Bulli des Ostens“ und in den 60er Jahren auf Augenhöhe mit vergleichbaren Modellen von Mercedes, wie z.B. dem Matador aus der „Harburger Transporter“ Modellreihe. Diese wurden unter dem Namen Tempo, Hanomag, Hanomag-Henschel und zuletzt als Mercedes-Benz verkauft. Die Transporter von Hanomag-Henschel waren z.T. baugleich mit Mercedes, zu neudeutsch „Badge Engineering“. 

Für das sänftenartige Fahrverhalten und das manchmal leicht schwammige Fahrgefühl im Barkas sorgen Drehstabfedern – eine Fahrdynamik welche auch älteren 107ern bekannt vorkommt.

Durch die politisch gewollte fehlende Weiterentwicklung des Barkas während seiner Bauzeit von 1961–1990 verlor dieser den Anschluss an westliche Standards. Für leidenschaftlich motivierte Ingenieure schon damals ein Trauerspiel.

In Sachsen wurde bis kurz nach der Wende die „Pappe“, wie man die aus Duroplast gefertigte überdachte Zündkerze namens Trabant nannte, produziert. Der Wartburg kam aus Thüringen, heute produziert Opel in Eisenach. Die Wartezeiten betrugen Ende der 1980er Jahre rund 13 Jahre für den Trabant und etwa 16 Jahre für den Wartburg. Aktuell steigende Wartezeiten auf Neuwagen sind im Vergleich dazu also noch Expresslieferungen.

Die Renaissance des sächsischen Automobilhandwerks wurde nach der Wende eingeleitet. Mit Fahrzeugwerken wie VW, BMW und Porsche sowie rund 780 Zulieferern und ca. 95.000 Beschäftigten gehört Sachsen wieder zu den deutschen Top-Standorten der Automobilindustrie. Die Marke Framo wurde durch die 2014 gegründete Framo GmbH wiederbelebt und entwickelt jetzt eTrucks.

Der Wandel auf den Spuren des industriekulturellen Erbes macht hungrig, somit war es an der Zeit für einen Pitstop im Bistro des Museums. Glücklicherweise wurden wir von der Bedienung nicht gehetzt, sodass ausreichend Zeit für ein Sonnenbad auf der Terrasse blieb und wir in der Mittagspause das entschleunigende Tempo der Servicekräfte genießen konnten.

Aufgewacht aus diesem Tagtraum ging es in der letzten Etappe zurück in die automobile Gegenwart und dabei kam es dann doch noch zum zufälligen Match mit einer offenen schwäbischen „Einzündschlossmusslinkssein“ Sportlegende. Bei diesen Stuttgart-Open wurde über vier Sätze gespielt, anbremsen, runterschalten, chirurgisch fein dosiert einlenken und wieder aufs Gas. Die Pneus krallten sich in den Asphalt und so retournierte der 107er den luftgekühlten Boxer und zeigte den beiden Kotflügelhörnern souverän unsere Rückleuchten mit kantigem Rillenprofil und dem „ästhetischen“ schwarzen Kunststoff-Heckspoiler. Diesen ehrenvoll geschmissenen Fehdehandschuh mussten wir aufheben – so sind Männer eben, „Hart aber herzlich“.

Auf öffentlichen Straßen und unterhalb der punkterelevanten Abschnitte des Bußgeld-Katalogs lässt sich der neue SL selbst durch gezielten Lastwechsel nicht mehr zum Querfahren animieren. Anders der 107er, welcher stärker untersteuert und mit Nachdruck in enge Kurven gezwungen werden muss. Erst bei höheren Geschwindigkeiten lenkt der Alte wie von selbst ein und übersteuert leicht, aber stets kontrollierbar. Beim sparsamen Verbrauch an Nerven pro 100 km spürt man somit die Verwandtschaft des neuen Zweiges am SL-Familienstammbaum.

Doch da waren sie nun, die Kardinalsfragen: Lieber zahlreiche elektronische Helferlein, welche die Fahrt fast komplett kontrollieren und einen chauffieren oder die Freude an einem puristischen, z.T. übermotorisierten 107er? Lieber zum Start einen Schlüssel drehen oder nur ein Knöpfchen drücken? Für alle die jetzt überlegen – Bigamie könnte doch in diesem Fall mal die Lösung sein – oder?

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