Leipziger Neuseenland

Auf den Spuren technischer Dinosaurier und fossiler Kraftstoffe trafen sich zur typenoffenen Oldtimerausfahrt 35 Mobilisten verschiedenster automobiler Couleur.

Während die sächsische Region rund um Leipzig zur Geburtsstunde der 107er vom Braunkohleabbau
geprägt war, verwandelte sich die Leipziger Seenlandschaft nach der Stilllegung der Tagebaue in den 90er
Jahren in eine moderne Wassersportregion bzw. in ein Naherholungsgebiet. Die sogenannten
Abbauhohlformen, also die Tagebaurestlöcher, wurden geflutet, rekultiviert und bilden einen
Gewässerverbund aus Seen, Flüssen und Kanälen von ca. 220 km Länge. Die Seenlandschaft in
Mitteldeutschland wächst zudem weiter und wird nach 2050 rund 260 km² Wasserflächen umfassen, was
mehr als die dreifache Fläche des Chiemsees ist.

In Anbetracht der sächsischen Bergbautradition stand folglich ein Zwischenstopp im Bergbau-TechnikPark auf dem Programm der Rundfahrt. Eine Führung durch ehemalige Bergbaumitarbeiter ermöglichte
einen authentischen Blick in die technische Vergangenheit. Genau wie Liebhaber von Oldtimern ihr
automobiles Kulturgut pflegen, wurden aus dem ehemaligen Tagebau Espenhain Schaufelradbagger und
diverse technische Großgeräte aus dem Ende der 80er als Industriekultur vor ihrer Verschrottung
bewahrt. Gegen diese technischen Dinosaurier wirken unsere Oldtimer wie eine Schar Microraptoren,
denen das Überleben geglückt ist.

Während für die Dinosaurier am Übergang der Kreidezeit zum Tertiär Schluss war, traf es die Braunkohle
Ender der 90er im Zuge der Energiewende.
Unsere ebenfalls vom Aussterben bedrohten, z.T. großvolumigen Verbrenner fossiler Kraftstoffe kehrten
mit diesem Zwischenstopp quasi an den Ursprung ihrer einstigen Nahrungsquelle für Olefine zurück.
Während das vor hundert Jahren von den deutschen Chemikern Friedrich Bergius und Matthias Pier
entwickelte Verfahren, aus Braunkohle Kraft- und Schmierstoffe herzustellen, heute keinen unserer
Oldtimer eine Nahrungsquelle mehr bietet, hatte die Fahrzeugbesatzung die Möglichkeit zum kalorischen
Energietanken am Grill-Imbiss.

Die riesigen Bagger sind, genau wie Oldtimer, Zeitzeugen der technischen Evolution. Obwohl Mercedes
die Fähigkeit zur „Evolution“ spätestens seit 1989 mit dem W201 als Homologationsmodell für die DTM
Programm auf und unter dem Blechkleid beweist, hat der „Evo“ seine Wurzeln letztendlich auch in
Dinosauriern wie der roten Sau (AMG 300 SEL 6.8) oder dem R107 Rallye (450 SLC 5.0). Bei aller
schwäbischer Evolution, unsere 107er besitzen als überlebende Fossilien noch einen Antriebsstrang,
dessen Herz in 6- oder 8 Zylinder Zündreihenfolge schlägt und durch dessen Venen noch oktanreicher
Ottokraftstoff strömt. Natürlich alles ohne digitalisieren Herzschrittmacher oder einen Kompressor als
Rollator.
Auch wenn die evolutionäre Stammlinie des SL durch den R129 – R232 gesichert ist, steht dem Verbrenner
doch ein ähnliches Schicksal wie den Braunkohlebaggern bevor. Oldtimerclubs bieten der vom Aussterben
bedrohten Antriebstechnik ein automobiles Schutzgebiet. In derartigen Reservaten sind auch den 107er
Stämmen asphaltierte Lebensräume geblieben. Dort leben viele Oldtimer in einem Biotop aus Garagen
und Stellplätzen und erfahren liebevolle ambulante Seniorenpflege beim betreuten (Aus-)Fahren. Immer
noch besser als die Zulassung entzogen zu bekommen und abgemeldet ins Museum abgeschoben zu
werden. Unsere Ausfahrt durch das Leipziger Neuseenland bei Temperaturen von über 36 Grad beweist
dabei eindrucksvoll, wie vital, rüstig und leistungsfähig die Technik der bunt gemischten Fahrzeugtypen
ist.
Das Teilnehmerfeld umfasste dabei diverse Klassiker, welche im Leben von Liebhabern und Enthusiasten
eine Rolle gespielt haben und liebevoll im Gedächtnis geblieben sind, weil sie z.B. für den damaligen
Geldbeutel unerschwinglich oder beispielsweise das erste eigene Autos waren. Dies erklärt den Anteil an
„DDR-Fahrzeugen“ an der Ausfahrt, sei es der Wartburg oder ein Lada der Volkspolizei.
All diese Oldtimer müssen als industrielle Kulturgüter für spätere Generationen erlebbar gehalten werden
und ein Automobil erlebt man, in dem man es fährt. Folglich erfolgte der Restart zur 2. Etappe, welche
über idyllische Nebenstraßen zurück nach Leipzig führte.
Historische Gefährte weckten als Zeitzeugen vergangener Epochen selbst bei Technik-Legasthenikern
Interesse, insbesondere da die Oldtimerszene u.a. alte Handwerkstraditionen bewahrt. Ein Aspekt,
welcher unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit voll im ökologischen Trend liegt. KfZ-Schlosser,
welche ein Auto noch verstehen, Sattler, Stellmacher, Lackierer oder Karosseriebauer sind
handwerklichen Berufe, die wie Dinosaurier vom Aussterben bedroht sind und durch Restauration
weitergegeben werden können.


Anders als die Dinosaurier werden wir uns der Diskussion um Resourcenbedarf und Emissionen bei
Oldtimerausfahrten sowie den Einfluss auf den Klimawandel stellen müssen, egal ob wir das mögen oder
nicht. Ein Thema, welches im Motorsport bereits angekommen ist und vor der Oldtimerszene nicht halt
macht. Klar ist auch, dass seelenlose Oldie-Zombies mit E-Antrieb oder „Restomods“ keine Alternative
sind. Zu einem Oldtimer gehört der originale Antriebsstrang der einen Verbrenner als Kraftquelle hat,
sonst ist er kein historisches Kulturgut mehr. Die erzeugten Emissionen muss man aber in Relation zu den
geringen Fahrleistungen sehen. Von 48,2 Mio. Fahrzeugen in Deutschland (Stand 2021) besitzen nur
584.509 ein H-Kennzeichen. Die Fahrleistung von Oldtimern beträgt im Schnitt 1500 km pro Jahr, was nur
ca. 0,14 % der Gesamtfahrleistung (642 Milliarden km) ausmacht. Davon gehen wunderschöne 100 km
auf das Konto dieser Rundfahrt.

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